Lina
»Lina ist ihr Name …
… und sie ist etwas ganz Besonderes.«
Nicht nur weil sie unsere Tochter ist und ihr Name im Lateinischen ›Licht oder Engel‹ und im Indianischen ›Wildpferd‹ bedeutet. Lina bringt ein paar Besonderheiten mit, die unser Leben von Anfang an völlig auf den Kopf gestellt haben – »Lina spezial«, wie Frau Heubach zu sagen pflegt.
Unsere kleine Lina erblickte am 2. März 2015 das Licht der Welt – sie wird dieses Licht jedoch niemals sehen können: Sie hat keine Augen. Eine extrem seltene Chromosomenstörung des neunten Chromosoms, die es nur fünfmal auf der Welt gibt, ist vermutlich die Ursache. Doch das war nicht das Einzige, was uns dieses magische neunte Chromosom beschert hat. Als Lina zwei Monate zu früh per Kaiserschnitt auf die Welt kam, riss uns die genetische Untersuchung zwei Wochen nach der Geburt den Boden unter den Füßen weg. Niemand konnte uns sagen, wie lange Lina leben und wie sie sich entwickeln würde. Zwischen Bangen und Hoffen, hin- und hergerissen, hörten wir uns der Reihe nach die Diagnosen weiterer Fehlbildungen an: ein Hydrozephalus internus – der sogenannte Wasserkopf – eine angeborene Taubheit, multiple Muskelschwäche und Epilepsie.
Es folgten fünf harte Monate Intensivstation. Immer wieder diskutierten die Ärzte mit uns über Linas limitierte Lebenserwartung und die Definition von Lebensqualität. All unsere Träume und Wünsche waren mit den Diagnosen wie eine Seifenblase zerplatzt. Und jetzt kämpfte Lina um ihr Leben. Und wir mit ihr für eine Chance zu zeigen, was sie will – bevor irgendein Arzt aufgrund der schlechten Prognosen entscheiden würde, das Beatmungsgerät abzustellen. Natürlich hatten wir immer im Hinterkopf, sie doch irgendwann, vielleicht sogar sehr schnell, gehen lassen zu müssen. Endlich war es soweit: Wir durften Lina mit nach Hause nehmen – zum Sterben. Ein furchtbarer Gedanke für frischgebackene Eltern, die ihr erstes Kind bekommen. Doch für uns war es in dieser schrecklichen Situation der größte Wunsch, unseren kleinen Engel nach Hause zu holen. Auch wenn das bedeutete, mit einem Sauerstoffkonzentrator und einem Überwachungsgerät nach Hause zu gehen.
Doch zu Hause war es trotz der Erfüllung unseres größten Wunsches nicht leicht: Hoffnung, Freude und Unbeschwertheit ob der langsamen Stabilisierung von Linas Zustand wechselten sich immer wieder mit Verzweiflung bei Rückschlägen, Trauer und Angst vor der Zukunft, Streitereien durch Überlastung und der Frage nach dem »Warum gerade wir?« ab. Durch Elternzeit und unbefristete Kinderkranktage konnten wir als Eltern beide zu Hause bleiben und in diese Situation irgendwie hineinwachsen.
Ein großer Segen in vielen dunklen Stunden war die Unterstützung des SAPV-Teams. Die erste Begegnung mit Frau Dr. Titgemeyer und Katharina Heubach fand bereits auf der Intensivstation statt. Das Projekt steckte damals noch in den Kinderschuhen, doch wir merkten recht schnell, wovon es getragen wurde: von höchster Fachkompetenz und großer Leidenschaft für Kinder. Aber es war nicht nur das. Frau Dr. Titgemeyer und Frau Heubach legten großen Wert auf eine allumfassende Betreuung. Für uns war die ärztliche und pflegerische Versorgung, die Belieferung mit Medikamenten, die Beratung zu vielen Themen des Alltags, die nächtlichen Besuche von einer lachenden Schwester Martina, wenn Lina sich mal wieder die Magensonde gezogen hatte, aber vor allem auch der ›Klönschnack‹ in dieser Situation ein wirkliches ›Rundum-Sorglos-Paket‹. Und das alles in unseren eigenen vier Wänden.
Besonders dankbar, dass es den SAPV Bremen für Kinder gibt, waren wir, als Lina in eine wirkliche Notsituation kam. Sie hatte schon in der Klinik und auch zu Hause unregelmäßig Atemaussetzer. Dieses eine Mal wollte sie gar keine Luft mehr holen und hielt den Atem an. Drei Minuten lang. Sie wurde ganz steif und blau. Es kam uns wie Stunden vor und Panik stieg auf, aber wir wussten, was zu tun ist. Weil wir mit Frau Dr. Titgemeyer oft darüber gesprochen hatten. Wir riefen den Notarzt und Frau Heubach an. Linas Papa machte eine Thoraxkompression nach Anleitung des Mitarbeiters in der Rettungsleitstelle. Lina schnappte kurz nach Luft, bekam langsam ihre Farbe wieder und als der Notarzt und kurze Zeit später Frau Dr. Titgemeyer und Frau Heubach eintrafen, lag Lina wieder fröhlich strampelnd auf ihrer Decke. Frau Dr. Titgemeyer empfahl uns sofort einen Aufenthalt in der Klinik, um die Ursache abzuklären. Es stellte sich heraus, dass Lina wohl aufgrund eines Reflux so reagiert hatte. Frau Dr. Titgemeyer verschrieb ein Medikament und die Atemaussetzer traten nie mehr auf.
Zu dem ›Rundum-Sorglos-Paket‹ gehört auch die sozial-psychologische Betreuung durch Angela Duhr. Sie hatte uns schon auf der Intensivstation nach Kräften unterstützt. Wir sind ihr heute noch dankbar, dass sie uns auch zu Hause in vielen Situationen wie ein rettender Engel professionell und mit höchstem Engagement zur Seite stand. Insbesondere als Linas Papa wieder anfing zu arbeiten, konnte Frau Duhr eine Familienhilfe installieren, die uns in der Bewältigung des neuen Alltags strukturierend unter die Arme griff. Und auch beim Umzug von der Bremer Wohnung mit Kind, Katze und gefühlten 1000 Kartons in den 50 Kilometer entfernten Resthof im beschaulichen Asendorf hat das SAPV-Team noch einmal Unterstützung geleistet: beim Aufbau eines Netzwerkes aus Kinderarzt, Pflegedienst und Haushaltshilfe sowie bei der Suche nach einem Namen für den Esel, den Frau Heubach für Lina in ihrem neuen Zuhause angedacht hatte.
Nur durch das umfassende Angebot des SAPV-Teams, das uns mit außerordentlichem Engagement unterstützt hat, konnten wir diese schwierige Situation zu Hause meistern. Und wir hatten großes Glück: Unser kleiner Engel hat sich entschieden, doch noch eine Weile bei uns zu bleiben und ihre Welt auf ihre Art zu entdecken. Lina ging es immer besser, sie brauchte weniger Medikamente, nahm an Gewicht zu und wir lernten ihr fröhliches und dickköpfiges Wesen kennen. Durch die vom SAPV initiierte Frühförderung, Musik- und Physiotherapie hat Lina sich wirklich gut entwickelt. In vielen kleinen Schritten und in ihren ganz eigenen Möglichkeiten geht es voran. Um ihre Entwicklung noch weiter zu verbessern, haben wir entschieden, dass Lina im Sommer in Hannover Cochlea-Implante bekommen soll. Damit kann die Voraussetzung für das Hören geschaffen werden.
Heute brauchen wir den SAPV nicht mehr, weil es Lina gut geht und sie sich entgegen allen ärztlichen Prognosen toll entwickelt. Wir sehen dies mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Es ist großartig, dass Lina diese Unterstützung nicht mehr braucht. Wir sind mächtig stolz auf unsere Tochter. Dieses kleine Wesen hat uns jetzt schon so viel gelehrt, uns das Leben neu entdecken lassen und uns mit vielen engagierten Menschen zusammengebracht. Dennoch sind uns die Mitarbeiter, insbesondere Frau Dr. Titgemeyer, Katharina Heubach und Angela Duhr, sehr ans Herz gewachsen. Wir bedanken uns ganz herzlich für diese fantastische Unterstützung und wünschen dem gesamten SAPV-Team weiterhin viel Erfolg und Freude an der Arbeit. Mögen noch ganz viele Eltern in ähnlicher Situation die Möglichkeit haben, dieses ›Rundum-Sorglos-Paket‹ buchen zu können.